Geschichten zu Geistthal

Geschichten zu Geistthal

1. Die heilige Kümmernis von Geisttal.

Das Gebirgsdorf Geisttal (Gaistal), in der mittleren Steiermark im Quellgebiet des Södingbaches gelegen und vom Murtal aus durch  den langen Stübinggraben erreichbar, ist samt seiner Umgebung uralter Kulturboden, der schon in der keltisch-römischen Zeit besiedelt war. Die an der Außenseite der Pfarrkirche eingemauerten „Römersteine“ könnten wohl viel von jener längst vergangenen Zeit erzählen, als noch die Marmorbrüche im benachbarten Oswaldgraben im Quellgebiet der Kainach in regstem Betrieb waren und römische Bauleute, Steinmetzen und Händler das Gebiet durchstreiften.

Der interessanteste Teil des Ortes ist der alte Dorfplatz der von breitkronigen Linden beschattet wird. Unter der Krone des mächtigsten Baumes steht, wie für die Ewigkeit bestimmt ein Steintisch von gewaltigen Ausmaßen, dessen verwitterte, rissige Platte von vielen Menschengeschlechtern erzählen könnte. Die langen Äste der Linde reichen bis zu den klobigen Mauern eines burgälmlichen Gebäudes, dem ältesten Bauwerk des Dorfes: das alte „Buchhaus“, das einstige Amts- und Gerichtshaus des ehemaligen Landgerichtes des Stiftes Rein. Es ist ein mächtiger Steinbau, für Jahrhunderte geschaffen, voll düsterer Geheimnisse. Enge, finstere Gänge, steile Stiegen kleine, fast lichtlose Kammern, meterdicke Mauern, eisenbeschlagene Rundbogentüren, rostzerfressene Fenstergitter, so steht das Gebäude da. Im weiten Kellergewölbe beginnt ein niedriger Gang, der plötzlich mit einem senkrechten Schacht endet. Wohin er führt, welchem Zweck er diente — wer weiß es? — Nur ganz geheimnisvoll flüstert Frau Sage von armen Gefangenen, die einstens hier auf rätselhafte Weise für immer verschwanden. Und so gibt dieses wuchtige Bauwerk, dessen Giebel die Jahreszahl 1539 zeigt, der beweglichen Phantasie immer wieder neuen Stoff für allerlei Schauergeschichten.

In einer hohen Stube des zweiten Stockwerks hängt an der Wand eine geschnitzte, bunt bemalte heilige Kümmernis, auch Wilgefortis genannt. Die Figur stammt aus dem 17. Jahrhundert und war ehemals an der großen Linde vor dem Gerichtsgebäude befestigt. Zu Füßen der gekreuzigten Jungfrau hing früher die Figur eines Geigers, die jedoch gestohlen wurde. Die sonderbare Darstellung geht auf folgende Sage zurück:

Das alte Gerichtshaus (heute Gasthof) soll vorzeiten eine Burg gewesen sein, in der ein rauher und grausamer Herr — noch Heide — mit seiner wunderschönen Tochter hauste, die heimlich Christin geworden war. Der Alte wollte sie gegen ihren Willen mit einem heidnischen Nachbar vermählen. Die Jungfrau wehrte sich und hatte beschlossen, Christi Braut zu werden. Der tyrannische Vater aber wollte die eheliche Vereinigung mit dem Heiden erzwingen.

In dieser Not entfloh die Jungfrau in den Wald und bat den lieben Herrgott, er möge sie so entstellen, daß sie jeder Mann verabscheuen müßte. Und richtig, über Nacht wuchs ihr ein dichter schwarzer Bart. Als die Häscher des Vaters sie endlich fanden, schleppten sie das Mädchen zurück nach Geisttal. Der Vater ließ nun die Tochter aus Wut über die fehlgeschlagenen Heiratspläne ans Kreuz schlagen. Später bereute er seine grausame Tat und ließ zur Sühne eine fast lebensgroße Figur der Tochter aus Holz schnitzen und an der Linde vor dem Schloß aufhängen. Das Bildnis zeigt die Jungfrau mit kohlschwarzem Bart, eine Krone auf dem Kopf, in prächtiger, bunter Kleidung. Das Volk aber verehrte sie als Heilige, weil bei ihrem Tod und auch nachher Wunder geschehen sind.

 

Kümmernis im Buchhaus von Geistthal, 2. Hälfte 18. Jhdt. 

Eines Tages kam ein armer Spielmann nach Geisttal, klagte den Menschen seine Not, wurde aber überall abgewiesen. In seiner Verzweiflung kniete er vor dem Bildnis an der Linde nieder, fiedelte mit Inbrunst seine schönsten Lieder und bat die Heilige um Hilfe. Plötzlich neigte sie ihr Haupt und ließ von ihrem rechten Fuß den goldenen Pantoffel fallen. Beglückt hob ihn der Spielmann auf und beeilte sich, ihn zu verkaufen. Er wurde jedoch verhaftet und mit der Beschuldigung, ihn gestohlen zu haben, zum Tod verurteilt. Auf dem Weg zum Hochgericht bat er inständig, nochmals vor der Heiligen spielen zu dürfen. Diese letzte Bitte wurde ihm gewährt, und als der Spielmann wieder zu Füßen der Gekreuzigten wehmütig fiedelte, warf ihm diese den zweiten Pantoffel zu. Damit war die Unschuld des Spielmanns vor allem Volk bewiesen. Er wurde freigesprochen und auch gleich entlassen. Damit hatte die heilige Kümmernis ein neues Wunder vollbracht und wurde vom Volk noch mehr verehrt.

Die heilige Kümmernis wurde früher in ganz Mitteleuropa verehrt unter dem Namen Wilgefortis, auch Sankt Liberata. Die erzählte Legende der „Heiligen" *) ist ziemlich weit verbreitet, nur wird sie meistens als Königstochter bezeichnet. Für Geisttal ist die Sage lokalisiert.

*) Die katholische Kirche kennt keine Heilige mit diesem Namen.

 

 

Kommentar "Das Buchhaus in Geistthal:

Nach Ausführungen von Manfred Kollmann, Gastwirt im Buchhaus

Im Ort Geistthal errichtete das Stift ein Amtsgebäude, welches als "Buchhaus" (Gasthof Kollmann) noch heute besteht. Dieses Verwaltungs- und Gerichtsgebäude wurde laut Dehio 1538 errichtet, nach dem nunmehr von Di M. Zechner durchgeführten Bauforschungsprojekt wohl schon um einiges früher, und besaß bis um 1900 eine mit 1596 datierte bemerkenswerte "getäfelte Stube" (nunmehr im Landesmuseum Joanneum - Außenstelle Stainz).

 

Das Buchhaus in Geistthal (heute Gasthaus Kollmann) 
 

In den Jahren 1686-88 war das "Buchhaus" Schauplatz großer Hexenprozesse mit mehr als 20 Angeklagten. Ein schmaler gewölbter Raum, der damals als "Keichn" (Gefängnis) gedient haben soll, wird heute noch gezeigt. Ein interessantes Detail brachten archäologische Untersuchungen im Frühjahr 2001 zu Tage.

Brunnenstube im Keller des Buchhauses von Geistthal, 16. Jhdt. oder früher (?) 
 

Ein im Kellerbereich aus dem Fels geschlagener Raum entpuppte sich als ein Brunnenhaus, dessen Wassersammelanlage bis heute funktionstüchtig geblieben ist. Im Haus aufbewahrt wird seit altersher auch eine qualitätsvolle dem B. Prandstätter zugesprochene, barocke Statue der hl. Kümmemis. Ebenfalls zum Haus gehören zwei präparierte Braunbären. Diese sollen der Überlieferung nach die letzten in der Umgebung von Geistthal erlegten Braunbaren sein und aus der Zeit Erzherzog Johanns stammen.

Ausgestopfte Bären in der Mansarde des Buchhauses von Geistthal, 2. Hälfte 18. Jhdt.

Interessant sind auch zwei im Stiegenhausbereich des 1. Obergeschosses situierte Säulen, wobei eine als Verzierung die Fabel vom Fuchs und den Weintrauben zeigt. Durch seine Ausstattung sowie seinen umfangreichen Altbestand an Bausubstanz und Bauschmuck zahlt das Geistthaler Buchhaus zu den interessantesten spatmittelalterlichen Bauwerken im Bereich der Mittelsteiermark!

Säule aus dem 16. Jhdt. Darstellung der Fabel vom Fuchs und den Trauben
Buchhaus von Geistthal, 2. Hälfte 18. Jhdt. 

 

Quelle: Was die Heimat erzählt, Die Weststeiermark, das Kainach-, Sulm- und Laßnitztal.
Herausgegeben von Franz Brauner.
Steirische Heimathefte. Graz 1953.
© digitale Version: www.SAGEN.at

Ausführungen von Manfred Kollmann, Gastwirt um Buchhaus